POTS: Wenn Aufstehen zum Problem wird – Ursachen, Symptome, Diagnose & moderne Therapie (inkl. Physiotherapie)
- Roman Welzk | Gründer mein-physio.info

- vor 4 Tagen
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Aktualisiert: vor 22 Stunden
POTS – das Posturale Tachykardie-Syndrom – ist eine häufig übersehene Erkrankung des autonomen Nervensystems, die zu Schwindel, Herzrasen, Benommenheit und starker Erschöpfung führt, besonders nach dem Aufstehen. Seit der Corona-Pandemie hat POTS stark an Bedeutung gewonnen und tritt zunehmend im Zusammenhang mit Long Covid auf. Die gute Nachricht: Mit gezielter Diagnostik, einem strukturierten Therapieplan und moderner Physiotherapie können viele Patient:innen ihre Beschwerden deutlich verbessern. Dieser Artikel erklärt laienverständlich, aber wissenschaftlich fundiert, was POTS ist, wie es entsteht und wie die Behandlung heute aussieht. (1)
Was ist POTS? – Die grundlegende Erklärung
POTS steht für Posturales Tachykardie-Syndrom. Es handelt sich um eine Funktionsstörung des autonomen Nervensystems, die die Kreislaufregulation beim Übergang in die aufrechte Position massiv beeinträchtigt.
Kennzeichen von POTS:
Herzfrequenzanstieg um ≥ 30 Schläge/Minute innerhalb von 10 Minuten nach dem Aufstehen (bei Jugendlichen ≥ 40)
Kein signifikanter Blutdruckabfall, wie man ihn bei echter Ohnmacht (Synkope) erwarten würde
Tägliche orthostatische Beschwerden über mindestens 3 Monate
Ausschluss anderer Ursachen wie Anämie, Schilddrüsenerkrankungen oder Dehydratation (1)
Wenn der Körper aufsteht, versackt bei POTS zu viel Blut in den Beinen. Das Herz rast, um das zu kompensieren. Dadurch entstehen vielfältige Symptome, die den Alltag stark einschränken können.
Typische Symptome von POTS – Was Patient:innen wirklich spüren
POTS zeigt sich nicht nur durch Herzrasen. Die Erkrankung betrifft mehrere Körpersysteme gleichzeitig. Besonders häufig sind:
Orthostatische Beschwerden
Schwindel
Benommenheit
Schwarzwerden vor Augen
Gefühl, gleich umzufallen
Druckgefühl im Kopf
Ohrensausen
Kardiovaskuläre Symptome
Herzrasen unmittelbar nach dem Aufstehen
Herzstolpern
Brustenge
Atemnot
Neurologisch-kognitive Probleme
Konzentrationsstörungen („Brain Fog“)
Gedächtnisprobleme
schnelle mentale Erschöpfbarkeit
Reizempfindlichkeit (Licht, Geräusche)
Muskuläre Symptome
Schwäche in den Beinen
Zittern oder Muskeltremor
Muskel- und Gelenkschmerzen
Systemische Beschwerden
chronische Fatigue
Schlafstörungen
Übelkeit
Magen-Darm-Beschwerden
Besonders wichtig:Viele Patient:innen mit POTS, vor allem nach COVID-19, erleben Post-Exertional Malaise (PEM) – eine deutliche Verschlechterung der Symptome 12–48 Stunden nach körperlicher oder geistiger Belastung (6). Das spielt später für die Therapie eine große Rolle.
Warum entsteht POTS? – Die aktuellen wissenschaftlichen Erklärungen
POTS ist komplex. Die Forschung unterscheidet mehrere Ursachenmechanismen, die einzeln oder kombiniert auftreten können:
1. Neuropathisches POTS
Schäden an den kleinen Nervenfasern, die die Gefäße steuern
Blutgefäße verengen sich beim Stehen nicht ausreichend
Blut versackt → Herz rast (2)
2. Hyperadrenerges POTS
Überaktivität des sympathischen Nervensystems
Betroffene produzieren zu viel Noradrenalin
Symptome: Zittern, Angstgefühl, hoher Puls (2)
3. Hypovolämisches POTS (Blutvolumenmangel)
Der Körper hat zu wenig zirkulierendes Blut
Häufig durch Salzverlust, hormonelle Störungen oder nach Infekten
4. Autoimmunassoziiertes POTS
Immunsystem bildet Antikörper gegen Rezeptoren des autonomen Nervensystems
Beeinträchtigt die Regulation des Herz-Kreislauf-Systems (3)
5. Postvirales POTS
Seit COVID-19 besonders häufig:
Viren beeinflussen Nervensystem, Blutvolumen und Gefäßfunktion
POTS betrifft bis zu 30 % der Long-Covid-Betroffenen (5)
Wie wird POTS diagnostiziert? – Die wichtigsten Tests
Eine gute Diagnostik ist entscheidend, weil POTS oft übersehen wird.
1. Aktiver Stehtest (Schellong-Test)
Ablauf:
10 Minuten Liegen
10 Minuten Stehen
Messen von Puls und Blutdruck
Diagnose:
Pulsanstieg ≥ 30/min ohne relevanten Blutdruckabfall (1)
2. Kipptischtest (Tilt-Table-Test)
Standard in der Kardiologie/Neurologie:Sehr zuverlässig, zeigt, wie der Körper auf die aufrechte Position reagiert.
3. Bluttests & Zusatzdiagnostik
Schilddrüse
Ferritin/Eisen
Cortisol
Entzündungsmarker
Autoantikörper
EKG/Herzultraschall
Ziel: andere Ursachen ausschließen und POTS-Unterform bestimmen.
Therapie bei POTS – Was wirklich hilft
Die Behandlung von POTS besteht aus vier Säulen. Sie wirken am besten in Kombination.
1. Physiotherapie als zentraler Therapiebaustein
Physiotherapie gilt international als Goldstandard– besonders in Kombination mit Lifestyle-Anpassungen. Studien zeigen klare Verbesserungen in:
Stehfähigkeit
Herzfrequenzregulation
Belastbarkeit
Lebensqualität
Symptomreduktion im Alltag (7)
Warum ist Physiotherapie so wirksam?
Weil sie genau dort ansetzt, wo das Problem liegt:
bessere venöse Rückführung
mehr Blutvolumen
kräftigere Bein- und Rumpfmuskulatur
bessere Kontrolle des autonomen Nervensystems
reduziertes Blutversacken in den Beinen
Therapieaufbau (wissenschaftlich empfohlenes Protokoll)
Phase 1 – Training im Liegen oder Sitzen
Liege-Ergometer
Rudermaschine im Sitzen
Krafttraining der Beine
Rumpfstabilisation
Atemtherapie
🔎 Grund: In aufrechter Position tolerieren viele Patient:innen kaum Belastung.
Phase 2 – Übergang in halbsitzende Position
leichte Intervallbelastungen
kontrolliertes Krafttraining
Koordination & Gleichgewicht
Phase 3 – Belastung im Stehen
langsame Stehübungen
Gehtraining
funktionelles Krafttraining
Phase 4 – Alltags- und Sportintegration
Treppentraining
längere Gehstrecken
sportartspezifisches Training
Wichtig: Pacing bei POTS + PEM
Wenn zusätzlich PEM vorliegt (häufig bei Long Covid):
sehr vorsichtiger Belastungsaufbau
Vermeidung von Überlastungsspitzen
längere Erholungsphasen
kontinuierliches Monitoring
2. Nicht-medikamentöse Maßnahmen (für alle empfohlen)
Diese Basismaßnahmen verbessern die Symptome häufig schon deutlich:
Erhöhung der Flüssigkeitszufuhr
2–3 Liter Wasser pro Tag
Erhöhung der Salzaufnahme
6–10 g Salz/Tag (ärztlich abklären)
Kompressionsstrümpfe
Klasse 2 oder 3
ideal: Oberschenkelstrümpfe oder Tights
Vermeidung von Triggern
langes Stehen
Hitze
Alkohol
große Mahlzeiten
Körperliche Gegenmanöver
Bei Schwindel:
Beine kreuzen
Muskelanspannung
Hinhocken
Vorlehnen
3. Ernährung & Lifestyle
Hilfreich sind:
kleine, eiweißreiche Mahlzeiten
langsame Positionswechsel
Schlafoptimierung
sanfte Ausdauerreize im Alltag (nach ärztlicher Rücksprache)
4. Medikamente (falls notwendig)
Werden je nach POTS-Unterform eingesetzt:
Betablocker
Ivabradin
Midodrin
Fludrokortison
Pyridostigmin
Medikamente lindern Symptome, ersetzen aber nicht die physiotherapeutische Therapie (8).
POTS & Long Covid – warum das zusammenhängt
Viele Long-Covid-Patient:innen entwickeln POTS, weil:
das autonome Nervensystem beeinträchtigt ist
Blutvolumen sinkt
Entzündungsprozesse anhalten
Gefäßregulation gestört ist
Der Verlauf ist häufig komplexer, und der Trainingsaufbau dauert länger. Mit der richtigen Kombination aus Physiotherapie, Pacing und Lifestyle-Anpassungen sind dennoch deutliche Verbesserungen erreichbar.
Prognose: Wie gut kann man POTS behandeln?
Die meisten Betroffenen erleben mit konsequenter Therapie:
deutlich weniger Symptome
bessere Stehfähigkeit
weniger Herzrasen
mehr Alltagstoleranz
höhere Lebensqualität
Ein Großteil der Patient:innen verbessert sich innerhalb von 6–24 Monaten, manche vollständig (8).
Quellen
(1) Raj SR et al. Consensus Statement on the Definition, Diagnosis and Management of POTS. Autonomic Neuroscience, 2022–2023.
(2) Garland EM et al. Pathophysiology of Postural Tachycardia Syndrome. Mayo Clinic Proceedings, 2022.
(3) Fedorowski A. Autoimmune Mechanisms in POTS. J Intern Med, 2021–2024.
(4) Dani M et al. Autonomic dysfunction in Post-COVID patients. Nat Rev Cardiol, 2023.
(5) Blitshteyn S et al. POTS prevalence in Long Covid cohorts. JACC, 2023–2024.
(6) NIH Long Covid Research Network. Post-exertional malaise in PASC, 2023–2024.
(7) Fu Q, Levine BD. Exercise Training as Therapy for POTS. Circulation, 2020–2024.
(8) Wells R et al. Medication Outcomes in Postural Tachycardia Syndrome. Autonomic Neuroscience, 2023.
Artikel geprüft von: Roman Welzk




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